Aikido-Elemente - T'ai Chi Ch'uan (Yang-Stil) in Lübeck und klassisches Aikido

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Aikido-Elemente

Aikido > Aikido-Lehrbuch

4

Elemente des Aikido

 

Die Elemente sind Bausteine der Techniken;
die Techniken sind Bausteine der Prinzipien;
die Prinzipien sind Bausteine des Aikido;
das Aikido ist ein Baustein zur menschlichen Vervollkommnung.
Kehre ständig zum Ursprung zurück;
verwechsle nie den Weg und das Ziel!


Jede Technik des Aikido besteht aus kleinen »Bausteinen«, die nachfolgend als »Elemente« bezeichnet werden. Dazu zählen jene unverzichtbaren Bestandteile (Stand, Stellung, Position, Distanz, Schwerthand, Körperzentrum, Bewegung und Atemkraft), die in ihrem harmonischen Zusammenspiel erst das Wesen einer Technik ausmachen und ihre Wirksamkeit bestimmen.
Will ein Aikidoka zum Beispiel den Einsatz seines Körperzentrums (Hara) üben, so ist dies in der Regel nicht ohne Formen der Bewegung (Sabaki) möglich.
Soll die Energie des eigenen bewegten Körperzentrums auf den Partner übertragen werden, muss eine – wenn auch manchmal nur kurzzeitige – Verbindung bestehen. Dies macht den Einsatz der Schwerthand (Tegatana) erforderlich, wenn der Angreifer den Kontakt nicht durch Umklammerung oder Erfassen des Verteidigers von sich aus herstellt. Im Aikido gibt es eine Reihe von Grundformen und Vorübungen, bei denen nicht der Niederwurf oder die Neutralisation des Angreifers im Vordergrund stehen, sondern die Verbesserung und Kontrolle der Elemente. Durch die ständige Wiederholung und korrekte Ausführung dieser »einfachen« Formen verbessert sich die Qualität aller Inhalte des Aikido entscheidend.
Die in diesem Buch vorgenommene getrennte Behandlung der Elemente hat nur methodische Gründe.
Auf seiner Suche nach Wahrheit und in dem Streben nach Fortschritt wendet sich der Mensch oft den komplizierten und komplexen Systemen zu. Er vergisst, dass Erkenntnis und wirklicher Fortschritt vor allem im Studium und in der Pflege des Einfachen begründet liegen. Wenn sich ein Aikidoka auf das Training weniger – vielleicht verwickelter – Techniken konzentriert, wird er sie nach einiger Zeit ohne Zweifel beherrschen und mit gesteigerter Fertigkeit ausführen können. Er wird aber auch von diesen Techniken beherrscht, denn er ist unbewusst auf sie fixiert und versucht, sie in jeder Situation anzuwenden. Dadurch ist er nicht mehr fähig, seinen ungebundenen Partner zweckmäßig zu ergänzen. Er hat sich also vom »harmonischen Weg« entfernt.
Wendet der Aikidoka hingegen den Elementen verstärkte Aufmerksamkeit zu, so verbessert er von der Basis her die Qualität aller Inhalte des Aikido, auch wenn sie ihm gegenwärtig noch nicht bekannt sind.
Diese Feststellung mag absurd erscheinen, lässt sich in der Praxis jedoch beweisen. Das verstärkte Training der Grundschule des Aikido steigert bei allen Ausübenden die Aufnahmefähigkeit und erleichtert die Vermittlung neuer Techniken oder Anwendungsformen. Sie werden so in ihrer gesamten Entwicklung gefördert.
Die Zusammenhänge sind in den nachfolgenden Diagrammen dargestellt:



Die Länge der Vektoren ist von der Dauer und Intensität des bezeichneten Trainings abhängig. Die Flächengröße des durch sie eingeschlossenen Dreiecks stellt ein Vergleichsmaß für die Summe aller durch das Aikidotraining gesammelten Erfahrungen dar. Das Verhältnis der Seiten zueinander und die Lage des Flächenschwerpunktes (S 1 oder S 2) symbolisieren die Ausgewogenheit und Stabilität des Systems.

Beispiel A:
Befasst sich der Ausübende nur mit den Techniken, nehmen die Erfahrungen in relativ geringem Umfang zu. Die Harmonie des Systems wird gestört; seine ursprüngliche Stabilität geht zunehmend verloren.

Beispiel B:
Pflegt der Ausübende die Elemente und Techniken hingegen in gleichem Maße, behält das System seine Ausgewogenheit und Stabilität. Die erheblich größere Zunahme an Erfahrungen ist beim Vergleich der Flächen augenfällig.

Alle Lehrer sollten diese Erkenntnisse nutzen und das Training der Meister und Schüler immer wieder durch die Vermittlung der Grundformen bereichern, denn im Aikido gilt ebenso wie in vielen anderen Lebensbereichen der Grundsatz, dass dem geringsten Element oft die größte Bedeutung zukommt.
Wenn die guten Meister ständig eine »Rückkehr zu den Quellen« fordern, so verstehen sie im technischen Bereich darunter ein verstärktes Studium der meist vernachlässigten Elemente.
Wird die begründete Ermahnung überhört oder aus Bequemlichkeit oder Ungeduld umgangen, ist die sachgerechte und wirksame Ausführung höherer Übungsformen des Aikido unmöglich. Der Weg zur meisterlichen Reife bleibt dem Ausübenden trotz aller Anstrengungen versperrt.
Die vorstehenden Ausführungen gelten im übertragenen Sinne auch für die Bereiche der geistigen Aktivitäten.

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4.1

Za-ho und Agura (Aikido-Sitz)

 

Die wahre Einstellung des Menschen
offenbart sich in seiner Haltung.
Sitze aufrecht!


Im Übungsraum (Dojo) findet man oft Aikidoka, die in den durch Vortrag oder Korrektur zwangsläufig entstehenden und auch notwendigen Trainingspausen förmlich ineinander fallen oder auseinander fließen. Gedankenverloren sind sie mit sich selbst beschäftigt. Die Bemühungen des Meisters werden mit leerem Blick oder überhaupt nicht beachtet. Der steht in dieser Situation vor einer unlösbaren Aufgabe, denn die Schüler entlassen ihr eben noch trainiertes Zentrum (Hara) unbedacht aus der fördernden Pflicht und machen dadurch das Ergebnis aller Bemühungen zunichte. Die zur Fortsetzung des Trainings notwendige neue Sammlung kostet wertvolle Zeit.
Geübte Aikidoka hingegen sind in der Lage, sich in den kurzen Pausen optimal zu erholen und trotzdem körperlich und geistig ständig präsent zu bleiben. Sie kennen das Geheimnis der rechten Haltung und Atmung.
Der im Aikido übliche Konzentrationssitz (Za-ho) kann schon vom äußeren Bild her zwischen dem Stand und dem Liegen eingeordnet werden. Er vereinigt in sich die Vorzüge beider Körperhaltungen – Bewegung und Ruhe. Die eingeschlagenen und an den Knien etwa zwei Fäuste breit geöffneten Beine bilden eine dreieckige Auflagefläche. Das Körperzentrum (Hara) befindet sich in Bodennähe und ruht sicher über dem Mittelpunkt dieser Basis. Der gesamte Unterbauch wird durch die Atemkraft (Kokyu) leicht angespannt. Darüber baut sich der Oberkörper senkrecht auf. Alle Muskeln befinden sich in einem Gleichgewichtszustand zwischen Spannung und Entspannung. Die Schultern fallen etwas nach unten, und der Kopf ist leicht nach vorn geneigt. Ohr, Schulter und Hüfte bilden von der Seite her gesehen eine Senkrechte. Die Handinnenflächen zeigen bei gegeneinander liegenden Daumen entweder nach oben oder werden getrennt auf die Oberschenkel gelegt (Abb. 18–20).
Die sofortige Kontrolle der Atmung ist besonders nach hohen Belastungen von Bedeutung. Dabei konzentriert sich der Aikidoka auf ein lang gezogenes und an Intensität zunehmendes Ausatmen. Das Einatmen erfolgt dann von selbst in kürzerer Zeit. Die Spannung im Zentrum (Hara) darf dabei aber nicht aufgegeben werden.
Infolge der guten Stellung und der korrekten Atmung fließen alle Spannungen nach unten ab. Die körperliche Entkrampfung und Erholung führt auch zum geistig-seelischen Wohlbefinden. Dadurch werden Leistungsfähigkeit und -bereitschaft gefördert.
Bei längeren Trainingspausen oder Vorträgen kann – insbesondere von ungeübten oder älteren Aikidoka – der »Schneidersitz« (Agura) eingenommen werden. Die Ausführungen zur äußeren Haltung und inneren Sammlung gelten jedoch auch hier (Abb. 21, 22).
Auf die Abschnitte 4.7 und 7.1 bis 7.3 wird in diesem Zusammenhang hingewiesen.


Zu 4.1

Za-ho und Agura
(Aikido-Sitz)








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Bilder 18-22

4.2

Kamae (Stand, Stellung, Position)

 

Wer immer vorbereitet sein will, muss in Ruhe
und Bewegung eine gute Haltung einnehmen.
Sie signalisiert die ganzheitliche Präsenz und beugt Konflikten vor.


Aikido ist ein rein defensives System der Selbstverteidigung ohne Waffen. Das hat vorwiegend ethische, aber auch praktische Gründe.
Nage kann dem defensiven Prinzip entsprechend nur auf die Bewegungen des Angreifers reagieren und muss bei zu großer Distanz (Ma-ai) in guter Stellung verharren, bis der Zeitpunkt des Handelns gekommen ist. Alle weiteren Aktionen enthalten ebenfalls statische und dynamische Phasen, die sich ständig und unvorhersehbar abwechseln.
Die vom Angreifer ausgehende Energie (Ki) lässt sich dann aufnehmen, umlenken und – manchmal verstärkt – gegen ihn selbst richten, wenn Nage aus und mit dem Zentrum wirkt. Dies ist nur möglich, wenn sich sein Körper in allen Ruhe- und Bewegungsphasen im stabilen Gleichgewicht befindet.
Ort, Art und Zeitpunkt des Angriffes werden bei den höheren Trainingsformen des Aikido und im Ernstfall immer durch Uke bestimmt. Der Verteidiger (Nage) kann diese Faktoren in der Regel nicht beeinflussen und muss sich daher durch das Einnehmen einer guten Stellung auf die intuitiv erahnte bzw. erkannte Aktion vorbereiten.
Die hierzu von einem geübten Aikidoka gewählte Stellung ist scheinbar statisch, tatsächlich jedoch voll gespeicherter Energie, die jederzeit in alle Richtungen freigesetzt werden kann.
Das in diesem Stadium vorhandene latente Gleichgewicht zwischen Ruhe und Bewegung basiert auf der Einheit von Geist und Körper. Es ist ein Zustand des Nichtbewusstseins, in dem Raum und Zeit an Bedeutung verlieren; die geistige Kraft (Ki) des Verteidigers kann sich ungehindert entfalten.
Der Körper des Menschen ist ein bedeutendes Ausdrucksmittel. Bestimmte Stellungen oder Gebärden können daher die Handlungen des Angreifers beeinflussen, wie nachfolgend erläutert wird.
In den »neutralen« Aikidostellungen befindet sich der Körperschwerpunkt lotrecht über dem Mittelpunkt der Standfläche, die durch die etwa schulterbreit geöffneten Füße begrenzt wird.
Alle Muskeln und Gelenke der Beine sind entspannt und geben dem Zentrum (Unterbauch) einen festen Halt. Oberkörper und Kopf bauen sich senkrecht darüber auf. Die gesamte Muskulatur ist in natürlicher Weise gelockert.
Der Blick wird frei nach vorn gerichtet und soll Uke immer in seiner Gesamtheit erfassen. Dies ist besonders bei bewaffneten Angreifern von großer Bedeutung.
Die Arme hängen bei der natürlichen Stellung (Shizentai) zwanglos herab. In der Aikido-Grundstellung wird die vordere Schwerthand (Tegatana) je nach Notwendigkeit im oberen (Jodan), mittleren (Chudan) oder unteren (Gedan) Bereich eingesetzt, während die hintere Schwerthand in der Nähe des Zentrums verbleibt.
In der natürlichen Stellung (Shizentai) öffnet sich Nage in Richtung auf Uke (Abb. 23). Er kann ihn so zu einem unvorbereiteten oder nachlässigen Angriff verleiten, zieht ihn also in seinen Wirk raum. Diese bei Angriffen von vorn manchmal zweckmäßige Stellung sollte jedoch nur angewendet werden, wenn der Verteidiger alle Formen der Bewegung (Sabaki) gut beherrscht.
In der Regel nimmt man jedoch die rechte (Migi-Kamae) oder linke (Hidari-Kamae) Aikido-Grundstellung ein (Abb. 24, 25). Dabei zeigt der vordere Fuß in Richtung auf Uke, während der hintere annähernd quer gestellt wird. Das vom Körperschwerpunkt auf die Matte gefällte Lot soll sich in der Mitte des spitzen Dreiecks befinden, welches durch die Außenkonturen der Füße begrenzt wird (siehe folgende Skizze).
Diese Stellung ist sehr stabil und nach allen Seiten offen. Sie erlaubt schnelle Vor- und Rückwärtsbewegungen auf der Wirkungslinie bzw. schräg nach außen (Ashi-sabaki), ausweichende und eintretende Richtungswechsel nach allen Seiten durch Drehungen auf dem vorderen oder hinteren Fuß (Tenkan- und Irimi-ashi), extreme Wendungen auf der Stelle und Körperbewegungen mit großem Raumgewinn (Tai-sabaki). Diese Möglichkeiten sind in der Skizze durch Pfeile dargestellt (siehe hierzu auch Abschnitt 4.6).



Das bei den positiven Aktionen mit seiner Spitze auf den Angreifer gerichtete Dreieck verdeutlicht den Fluss der Energie (Ki). Sie kann durch die Wendungen sehr schnell umgekehrt, d. h. wieder von ihm abgewandt werden. Dies entspricht dem zur Ergänzung des Partners notwendigen Wechsel der Prinzipien (Irimi und Tenkan).
Bei der Aikido-Grundstellung wird dem Angreifer die Körperschmalseite angeboten. Sie signalisiert Wachsamkeit sowie (gefährliche) Entschlossenheit und hält Uke nicht selten von der Durchführung des geplanten Angriffes ab. Ein geübter Kämpfer wird durch sie jedoch zur Vorsicht gemahnt; er wird die weiteren Aktionen konzentrierter ausführen. Stehen Nage und Uke sich in der Aikido-Grundstellung gegenüber, so sind folgende Positionen möglich:

Ai-hanmi (Abb. 26)
Beide Partner befinden sich in der gleichen Stellung (Migi- oder Hidari-Kamae). Daraus ergibt sich eine diagonale Stellung der Schwerthände.

Gyaku-hanmi (Abb. 27)
Beide Partner befinden sich in ungleicher (umgekehrter) Stellung (Nage = Migi-Kamae und Uke = Hidari-Kamae oder Nage = Hidari-Kamae und Uke = Migi-Kamae). Daraus ergibt sich eine gleichseitige Stellung der Schwerthände.
Aus den vorgenannten Positionen resultieren die unterschiedlichen Formen des Einganges (Ausweichens) zur Einleitung der Aikido-Techniken (siehe hierzu Abschnitt 6.1).
Alle Stellungen und Positionen sind zunächst schulmäßig einzunehmen und zu kontrollieren. Sie werden später im Zusammenhang mit den Formen der Bewegung (Sabaki) sowie bei Ausführung aller Techniken geübt.
Eine schlechte Stellung ist Ausdruck der fehlenden geistigen und körperlichen Bereitschaft des Ausübenden. Sie begründet den Misserfolg aller Abwehrhandlungen und sollte daher weder im Training noch bei Prüfungen geduldet werden!


Zu 4.2

Kamae
(Stand, Stellung, Position)








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Bilder 23-27

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4.3

Ma-ai (harmonische Distanz)

 

Die natürliche Harmonie ist sehr wesentlich dadurch begründet,
dass jedes Wesen oder Ding in Raum und Zeit einen
bestimmten Platz hat.


Bei jeder Auseinandersetzung werden geistige und physische Kräfte freigesetzt und gegen andere Menschen gerichtet. Diese Kräfte können wegen ihrer Endlichkeit nur über eine bestimmte Entfernung wirken. Wer sie kontrollieren, umlenken oder neutralisieren will, muss die praktische Bedeutung der Distanz erforschen.
Mit Ma-ai bezeichnet man im Aikido den harmonischen Abstand zwischen Uke (U) und Nage (N). In den nachfolgenden Skizzen stellen die Mittelpunkte der Kreise das Körperzentrum der Ausübenden dar. Die Kreise schließen den Wirkraum ein, der durch die Reichweite ihrer Gliedmaßen (Waffen) bestimmt ist. Da der Mensch – geistig und körperlich – in alle Richtungen des Raumes wirken kann, entsteht das Bild zweier Kugeln. Sie können sich im Abstand voneinander bewegen, durchdringen oder an der Oberfläche berühren.



Beispiel 1:
Uke kann wegen der zu großen Distanz keinen Einfluss auf Nage nehmen. Nage ist folglich körperlich noch ungefährdet, sollte jedoch eine gute Stellung beziehen und damit seine geistige und körperliche Bereitschaft erkennen lassen. Er kann die weitere Entwicklung der Lage dann in entspannter Aufmerksamkeit verfolgen.
Ethik und Prinzipien des Aikido verbieten, dass Nage die Distanz durch eine Angriffsbewegung verkürzt. Sie könnte sich gegen ihn selbst richten!

Beispiel 2:
Uke ist bereits in den Frei- bzw. Wirkraum Nages eingetreten; die gegeneinander gerichteten Kräfte durchdringen sich. Nage kann nun entschlossen weiter eintreten (Irimi) oder durch eine geradlinige (Ashi-sabaki) bzw. abrollende (Tai-sabaki, Tenkan-ashi) Ausweichbewegung die korrekte (harmonische) Distanz wieder herstellen. In diesem Falle gewinnt er eine andere – für den Fluss seiner Atemkraft günstigere – Linie. Die beschriebenen Möglichkeiten sind durch Pfeile dargestellt.

Beispiel 3:
Bei der hier dargestellten harmonischen Distanz ist die geistige Kraft (Ki) bzw. die Atemkraft (Kokyu) der Ausübenden – noch ohne Wechselwirkung – miteinander verbunden. Die Entfernung der beiden Mittelpunkte (Körperzentren) schafft eine neutrale (harmonische) Ausgangsposition, denn Uke und Nage sind nach allen Seiten offen, besitzen also noch die Freiheit der Entscheidung und des Handelns. Die zentrische Anordnung der Punkte in den Kreisen symbolisiert die »rechte Mitte« der Ausführenden.
Das Bild macht aber auch den »rechten Augenblick« sichtbar. In einer fließenden Aktion müsste Nage nach dem zweckmäßigen Prinzip (Irimi oder Tenkan) handeln, wenn in einer Konfliktsituation die dargestellte Distanz (Ma-ai) gegeben ist.

Bei Ausführung aller Techniken des Aikido ist die harmonische Distanz (Ma-ai) zwischen Nage und Uke besonders wichtig. Kommt es doch immer darauf an, dass sich der Strom der geistig-seelischen Kraft (Ki) beider Partner im rechten Augenblick und am günstigen Ort miteinander verbindet.
Nicht selten hängt die Durchführbarkeit und fast immer die Effektivität der Aikidotechniken vom Vorhandensein einer harmonischen Distanz ab. Sie ist bei unbewaffneten Angreifern in der Regel hergestellt, wenn sich die Schwerthände (Tegatana) bei gleichseitiger Stellung (ai-hanmi) berühren (Abb. 28, 29). Ukes Angriffe können Nage dann noch nicht gefährden (Abb. 30).
Die vorstehenden Ausführungen müssen für das praktische Training jedoch weiter differenziert werden, denn die Atemkraft (Kokyu) wird bei den einzelnen Angriffsarten und Techniken an unterschiedlichen Punkten wirksam.
Die jeweils erforderliche Distanz wird von den Ausübenden zunächst bewusst eingenommen. Durch die ständige Übung entwickeln die Aikidoka dann ein natürliches Gefühl für die harmonische Distanz. Sie wird als ein erfolgsbestimmender Faktor fortan nach verzugsfreier Bewegung (Sabaki) unbewusst eingenommen.
Selbstverständlich wird die harmonische Distanz zwischen Uke und Nage auch durch die unterschiedlichen Körpermaße beeinflusst. Ist Uke bewaffnet, vergrößert sie sich entsprechend der gesteigerten Reichweite. Die in den vorstehenden Bildern dargestellten Kreise hätten dann unterschiedliche Halbmesser.
Abschließend sei festgestellt, dass die ständige Einhaltung einer korrekten Distanz im körperlichen und geistig-seelischen Bereich auch Ausdruck des Respekts vor dem Partner und seiner Integrität ist. Man dokumentiert dadurch die eigene friedliche Absicht und erzeugt eine wohltuende Atmosphäre, die für die Harmonie zwischen allen Betroffenen von großer Bedeutung ist. Wer den Frieden liebt, sollte in den Freiraum eines anderen Menschen nur eintreten, wenn dieser sein Einverständnis signalisiert hat.
Während des Aikidotrainings wechseln die Rollen von Uke und Nage ständig. Der jeweilige Verteidiger duldet, dass der Angreifer in seinen Schutzbereich eintritt. Das schafft eine Basis des Vertrauens und verpflichtet die Ausübenden zur respektvollen Rücksichtnahme. Daher sollten gerade auch solche Menschen miteinander Aikido betreiben, zwischen denen – aus welchen Gründen auch immer – belastende Spannungen bestehen.


Zu 4.3

Maai
(harmonische Distanz)








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Bilder 28-30

4.4

Tegatana (Schwerthand)

 

Wer seine ausgebildete Schwerthand (Tegatana)
nur zur Führung des Angreifers einsetzt,
handelt in Übereinstimmung mit den moralischen
Prinzipien des Aikido und fördert den Frieden.


Viele Elemente und Techniken des Aikido sind aus der traditionellen japanischen Kunst des Schwertkampfes abgeleitet. Die Verwandtschaft wird in den Grundstellungen und Bewegungen deutlich, denn Nage setzt seine Arme und Hände in vielfältiger Weise zum Schlagen, Speeren, Schneiden, Stoßen und Führen ein. Diese in der Regel einzige »Waffe« des Aikidoka wird daher bildhaft als Schwerthand (Tegatana) bezeichnet.
Man versteht darunter den (die) leicht bogenförmig vor dem Körper geführten Arm(e) vom Ellenbogen bis zu den Fingerspitzen der gestreckten Hand. In der Praxis wird die Schwerthand jedoch vorzugsweise mit ihrer Kleinfingerseite vom Handgelenk bis zur Spitze des kleinen Fingers eingesetzt. Sie überträgt die aus dem stabilen Körperzentrum fließende Atemkraft (Kokyu) auf den Angreifer, wenn die harmonische Distanz (Ma-ai) hergestellt ist (siehe Abschnitt 4.3).
Aus dem Schultergelenk erfolgt im Wesentlichen nur eine vertikale und – in Verbindung mit dem Ellenbogen- oder Handgelenk – eine kreisförmige Bewegung um die Wirkungslinie der Atemkraft (mawashi), die den Einsatz der Schwerthand (Tegatana) im oberen (Jodan), mittleren (Chudan) und unteren (Gedan) Körperbereich des Angreifers möglich macht. Die – vorwiegend – horizontalen Bewegungen des Körperzentrums und die vertikalen Eigenbewegungen der Schwerthand überlagern sich so, dass sie im Raum auf verwickelten Kurvenbahnen geführt wird.
Der bewegte Körper des Verteidigers kann Energie freigeben (Irimi) oder aufnehmen (Tenkan). In jedem Fall muss jedoch eine körperliche Verbindung zum Angreifer bestehen, damit die Übertragung (Leere auffüllen) oder der Entzug (Fülle entleeren) möglich ist. Die Wirksamkeit der Aikidotechniken wird folglich wesentlich durch das Zusammenspiel von Bewegung (Sabaki) und Schwerthand (Tegatana) bestimmt.
Nage kann seine »Waffe« aber nur dann zweckmäßig einsetzen, wenn er die variablen Faktoren – Stärke, Wirkungslinie, Richtung und Ansatzpunkt der Atemkraft (Kokyu) – so aufeinander abstimmt, dass sie in ihrer Gesamtheit die gewünschte Wirkung beim Angreifer hervorrufen.
Die vorstehenden Erklärungen sollen nur einen Überblick vermitteln und Schwerpunkte aufzeigen. Die Bedeutung der »großen, mittleren und kleinen Kreise« und den damit im Zusammenhang stehenden intuitiven und wirksamen Gebrauch seiner Schwerthände kann der Aikidoka ohnehin nur im langjährigen praktischen Training erlernen.
Die Empfindlichkeit der Schwerthand (Tegatana) verbietet – insbesondere bei bewaffneten Angreifern – das direkte Abblocken oder Parieren von Schlägen und Stößen sowie eine unkontrollierte Ausführung der Abwehrtechniken. Nage muss den Angreifer daher zunächst in Richtung der wirkenden Kraft begleiten und ergänzen, bevor er die Führung und Umlenkung nach eigenem Willen vornehmen kann. Diese Tatsache verhindert eine missbräuchliche Benutzung der Schwerthand (Tegatana) zum Angriff und hat die bestechende Eleganz des körperlichen Aikido wesentlich mitgeprägt.
Die nachfolgenden Abschnitte enthalten in den Bild- und Textteilen zahlreiche Hinweise und Beispiele zur Anwendung der Schwerthand (Tegatana).

4.5

Hara (Einsatz des Körperzentrums)

 

Wer seine Mitte sucht,
sollte nach innen blicken!


Die meisten Menschen sind fest davon überzeugt, dass sie sich in jeder Situation »senkrecht halten« können. Werden sie durch äußere Einflüsse dann jedoch zu schnellen Richtungs- oder Stellungswechseln gezwungen, fallen sie häufig »über die eigenen Füße«. Mangelnde Übung und vorübergehende geistige Ablenkung führten zum »Verlust der Mitte«, was verhängnisvolle Auswirkungen haben kann.
Unter dem Begriff »Bauch« (Hara oder Saika-Tanden) ist im physikalischen Sinne das Zentrum (Massenschwerpunkt) des menschlichen Körpers zu verstehen. Es befindet sich im Unterbauch (Beckenraum), etwa 2 cm unterhalb des Nabels.
Im Fernen Osten hat der Hara nicht nur eine anatomische oder physikalische Bedeutung. Er ist vielmehr auch im religiösen und philosophischen Sinne »die eine Mitte« sowie »der Sitz des Lebens«. Eine Stärkung des Hara fördert nach Auffassung der Japaner daher immer auch die geistige Kraft und die positiven Charaktereigenschaften des Menschen.
Eine wirksame Entfaltung der eigenen Atemkraft (Kokyu) und die schadlose Aufnahme äußerer (fremder) Kräfte sind nur möglich, wenn der Aikidoka über ein stabiles Zentrum verfügt. Dies ist unter den physiologischen Voraussetzungen des menschlichen Körpers der Fall, wenn sich der Schwerpunkt (Hara) in möglichst tiefer Lage lotrecht über dem Mittelpunkt der durch die Füße begrenzten Standfläche befindet. Bei den Drehbewegungen kommt eine stabilisierende Wirkung hinzu.
Diese Überlegungen zeigen zwar das Problem auf, sind für den handelnden Körper jedoch ohne Nutzen. Er muss vielmehr in wechselnden Situationen sowie unter erschwerten äußeren Bedingungen solange trainiert werden, bis die Erfahrungen ins Unterbewusstsein eingegangen sind. Der Aikidoka wird – bei entsprechender Übung – dann immer ein stabiles körperliches sowie geistig-seelisches Gleichgewicht besitzen und situationsgerecht handeln können. Nachfolgend werden einige Übungen zur Schulung und Stärkung des Körperzentrums (Hara) beschrieben. Bei der Ausführung ist besonders auf die Koordination von Bewegung (Sabaki), Atemkraft (Kokyu) und Zentrum (Hara) zu achten, da sich der Erfolg erst beim harmonischen Zusammenspiel dieser Elemente einstellt. Unter Berücksichtigung der Zielsetzung sowie in Übereinstimmung mit dem folgenden Prinzip (Irimi oder Tenkan) kann der Atemrhythmus bei allen Übungen auch umgekehrt werden.
Alle Bewegungen müssen beidseitig, ausdauernd und in Serien durchgeführt werden. Zur Kontrolle stoppt der Aikidoka die Übung auf Zuruf in einem Wendepunkt. Der Lehrer prüft die Standsicherheit dann sowohl in Bewegungsrichtung des Zentrums (der fließenden Atemkraft) als auch entgegengesetzt.
Fortgeschrittene Aikidoka können die Übungen mit den Formen der Bewegung (Sabaki) verbinden.

1. Übung
Der Aikidoka nimmt die Grundstellung (Hidari- oder Migi-Kamae) ein und verteilt das Körpergewicht gleichmäßig auf beide Füße. Er wirft die locker am Körper hängenden und in natürlicher Weise gebogenen Schwerthände (Tegatana) mit gestreckten Fingern in den oberen Bereich (Jodan) und nimmt sie von dort nach kurzer Arretierung zurück an die Hüften.
Im Verlauf der Aufwärtsbewegung wird das abgesenkte Zentrum (Hara) durch Gleitschritt (Tsugi-ashi) auf den vorderen Fuß verlagert. Dabei muss sich der Aikidoka vorstellen, dass er seine Atemkraft (Kokyu) aus dem bewegten Zentrum durch die Schwerthände in den Raum fließen lässt. Dies erfordert ein bewegungssynchrones Ausatmen.
Beim anschließenden Abschwingen der Schwerthände atmet der Aikidoka ein und nimmt sein Zentrum durch einen Gleitschritt nach hinten entspannt in die Ausgangsstellung zurück (Abb. 31, 32).

2. Übung
Der Aikidoka nimmt die natürliche Stellung (Shizentai) ein und schwingt beide Schwerthände (Tegatana) aus den Schultergelenken locker nach rechts. Anschließend schiebt er sein Zentrum (Hara) diagonal in Richtung auf den rechten Fuß und lässt die Atemkraft (Kokyu) durch beide Schwerthände (Tegatana) in den Raum fließen (Abb. 33).
In der folgenden Phase des Einatmens gleitet das Zentrum in seine natürliche Mittellage zurück und die Schwerthände schwingen entspannt zur linken Seite. Dort wiederholt sich die mit dem Ausatmen verbundene Bewegung des Zentrums (Abb. 34).

3. Übung
Aus der natürlichen Stellung (Shizentai) schwingt der Aikidoka beide Schwerthände (Tegatana) nach oben (Jodan) und kreuzt sie vor dem Gesicht. Im Verlauf dieser bei entspanntem Zentrum ausgeführten Bewegung atmet er ein.
Anschließend lässt der Aikidoka beide Schwerthände wieder locker nach unten fallen und stellt sich vor, dass die Atemkraft dabei herausgeschleudert wird (Abb. 35, 36). In der Vorstellung, dass die gekreuzten Hände der Abwehr dienen, kann die Atmung auch umgekehrt werden.

4. Übung
Der Aikidoka begibt sich in die natürliche Stellung (Shizentai), dreht beide Handflächen nach oben und atmet dabei ein (Abb. 37).
Anschließend lässt er sein Zentrum bei aufrechtem Oberkörper etwas fallen und führt die Schwerthände mit einer schraubenden Bewegung vor dem Zentrum (Hara) kreisförmig zusammen. Dabei atmet der Aikidoka aus und stellt sich vor, dass beide Schwerthände durch die ineinander fließende Atemkraft (Kokyu) miteinander verbunden werden (Abb. 38).
Beim Zurückgehen in die vorgenannte Ausgangsstellung wird wieder eingeatmet.

5. Übung
Aus der Grundstellung (Hidari- oder Migi-Kamae) wirft der Aikidoka sein Zentrum und beide Arme mit extrem gebeugten Handgelenken koordiniert in den mittleren Bereich (Chudan) nach vorn. Dabei vollzieht er einen begrenzten Gleitschritt (Tsugi-ashi) auf dem vorderen Fuß und atmet kurz ein (Abb. 39, 40).
Anschließend nimmt der Aikidoka sein Zentrum mit einem Gleitschritt zurück und führt mit den – gestreckten – Armen und abgewinkelten Händen eine ziehende »Ruderbewegung« schräg nach unten durch. Dabei atmet er aus (Abb. 41).


Noch zu 4.5

Hara
(Einsatz des Körperzentrums)








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Bilder 31-41



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